Zukunftsland Sachsen-Anhalt
2024
stadtplanung
Halles Bürgermeister Egbert Geier steht an einem Plan des Riebeckplatzes. Mit dem Bau des Zukunftszentrums soll Ostdeutschlands verkehrsreichster Knoten zu einem attraktiven Eingangstor zur Stadt werden. Foto: Andreas Stedtler
Halles Bürgermeister Egbert Geier steht an einem Plan des Riebeckplatzes. Mit dem Bau des Zukunftszentrums soll Ostdeutschlands verkehrsreichster Knoten zu einem attraktiven Eingangstor zur Stadt werden. Foto: Andreas Stedtler
Zukunftszentrum als Goldesel?
Von Dirk Skrzypczak
In Halle debattiert man über den Inhalt und den Platz des Prestigebaus, der neben
einem Verkehrsknotenpunkt entsteht.
Hin. Drüber. Weg. Möglichst schnell. Der Riebeckplatz in Halle ist ein Verkehrsmonster abseits jeglicher Lebensqualität. Ein Autobahnkreuz mitten in der Stadt, Ostdeutschlands verkehrsreichster Kreisel, der täglich bis zu 90.000 Autos in alle Richtungen pumpt. 40.000 Reisende kommen pro Tag gleich nebenan mit Zügen an, hetzen durch ein unterirdisches Rondell zum oberen Boulevard, der trotz vieler Geschäfte und einiger Cafés verlassen wirkt – der Trubel fängt erst jenseits des Leipziger Turms an. Ausgerechnet der Riebeckplatz, ein Monument aus Beton, wird die Heimat einer der größten Investitionen des Bundes der letzten Jahrzehnte: Hier wird das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation stehen, das sich der Bund 200 Millionen Euro kosten lässt.
Halle in Aufbruchstimmung
Im Februar hatte sich eine Expertenkommission nach hartem Ringen für Halle entschieden – und gegen den Favoriten Frankfurt/Oder sowie die Mitbewerber Leipzig/Plauen, Eisenach und Jena. Seitdem hat eine seltsame Stimmung die Stadtgesellschaft erfasst. Sie schwankt zwischen Euphorie und Skepsis, was am Zukunftszentrum selbst liegt. Denn bislang gab es nur vage Aussagen aus Berlin, was dieses Haus denn anders machen soll als etwa das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig.
An Erinnerungskultur über die Wendezeit in der DDR und den Fall der Mauer mangelt es wahrlich nicht. „Das Zentrum soll die Transformationsgeschichte in Ostdeutschland und anderen mittel- und osteuropäischen Staaten seit 1989 wissenschaftlich untersuchen“, sagt der Ostbeauftragte der Bundesregierung Carsten Schneider (SPD). Er formuliert es so: 40 Prozent des Profils sollen Dialogen vorbehalten bleiben sowie je 30 Prozent der Forschung und der Kultur. Und Schneider zementiert den Anspruch der Bundesregierung, den abseits des Kanzleramts im politischen Geschäft nur wenige glauben mögen: Bis zu einer Million Besucher pro Jahr werden angestrebt.
Im Rathaus jedenfalls hofft Bürgermeister Egbert Geier (SPD), dass die Prognosen zutreffen. Das Zukunftszentrum ist die große Hoffnung der Stadt für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Seit der politischen Wende vor 34 Jahren hat Halle ein Drittel seiner Einwohner verloren.
Es soll spektakulär sein
„Die Zahlen unterstreichen die Wirkung des Zukunftszentrums für Halle und das Umland“, sagt Geier. Der Stadt biete sich eine einmalige Chance. „Wir machen das nicht für uns. Wir machen das für die Menschen“, sagt er. Der Bund jedenfalls will trotz Haushaltssperre und Milliardenloch am Zeitplan festhalten. 2029 soll möglichst die Eröffnung sein. Im nächsten Jahr wird eine Betreibergesellschaft gegründet, außerdem soll der internationale Architekturwettbewerb starten. In Halle träumt man bereits von einer spektakulären Hülle wie beim Guggenheim-Museum in New York oder der Oper in Sydney. Das sieht auch Staatsminister Schneider so. Es müsse ein Ort entstehen, an dem man sich gerne aufhalte – auch ohne die Gedanken an die Einheit oder Transformationsprozesse. Das gilt nicht weniger für den Riebeckplatz. Es heißt, die Jury habe sich neben anderen Vorzügen wie der exzellenten Verkehrsanbindung auch wegen des mächtigen Kreisverkehrs für Halle entschieden. Der soll sich wandeln. „Wir wollen ein großes Stück weg vom Verkehr und hin zur Lebensqualität“, beschreibt es Geier.
Für rund 70 Millionen Euro Baukosten soll der Riebeckplatz seinen Schrecken verlieren und mehr Grün bekommen. Drumherum versammeln sich bereits Investoren. Geplant sind neue Hotels, Bürogebäude, Parkhäuser und Wohnanlagen. „Wir wollen den Riebeckplatz zu einem lebendigen Stadtraum verändern“, sagt Geier.
Nicht weniger anspruchsvoll sind indes die Erwartungen an das Zukunftszentrum. FDP-Politikerin Cornelia Pieper, Generalkonsulin im polnischen Danzig, skizziert sie so: „Das Zukunftszentrum soll sich zu einem Machtzentrum für Freiheit und Demokratie in Europa entwickeln.“
200 Millonen Euro
will der Bund in den Bau des Zukunftszentrums auf dem Riebeckplatz investieren. Nach der Eröffnung werden bis zu einer Million Besucher pro Jahr erwartet. Demnächst wird der Architekturwettbewerb europaweit ausgeschrieben.
Viel Ansehen für die Stadt
Leipzig, nur eine Marathonstrecke von der Händelstadt entfernt, hat Halle gnadenlos abgehängt. Das beschert der Stadt an der Saale ohne die Wucht einer Metropole zweifellos eine gemütliche Beschaulichkeit, aber eben auch neidische Blicke gen Sachsen. Nun bekommt Halle das Zukunftszentrum und mit ihm Prestige, internationale Aufmerksamkeit und jährlich Hunderttausende Gäste, die sich sonst kaum für Halle interessiert hätten. In Geiers Stab schlägt bereits die Stunde der Ökonomen. Sie haben ausgerechnet, welche Einnahmen das Zukunftszentrum für die Stadt, Händler, Restaurants und Dienstleister generieren könnte: rund 150 Millionen Euro bei 500.000 Gästen pro Jahr. Kämen eine Million Besucher, wären es um die 268 Millionen Euro. Zudem hofft der Bürgermeister, der gleichzeitig auch Kämmerer ist, auf Steuermehreinnahmen von bis zu 6,8 Millionen Euro im Jahr. Für eine Stadt, die im aktuellen Ranking des Instituts der Deutschen Wirtschaft bei der Steuerkraft den letzten Platz unter 71 untersuchten deutschen Großstädten belegt, zweifellos nicht unerheblich.
Das Vorbild für das Zukunftszentrum von Halle ist das Solidarnosc-Zentrum in Danzig
Das Solidarnosc-Zentrum in der polnischen Hafenstadt Danzig gilt als Vorbild für das Zukunftszentrum in Halle. Die 2014 eröffnete Begegnungsstätte erinnert an den Freiheitskampf der Gewerkschaft auf der ehemaligen Leninwerft, der 1980 begann und 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts nicht niedergeschlagen werden konnte. Die Solidarnosc mit ihrem Gewerkschaftsführer Lech Walesa hatte den Boden für den politischen Wandel bereitet, der zum Zusammenbruch des Ostblocks führte. Das Zentrum mit Museum, Bibliothek und Veranstaltungszone zieht pro Jahr rund eine Million Besucher an – so erklärt sich auch die vom Bund kalkulierte Touristenzahl für den Neubau in Halle. DSK