Zukunftsland Sachsen-Anhalt
2024
Sachsen-Anhalt
erfindet sich
gerade neu
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, sieht die Zeit für mehr Selbstbewusstsein und Weltoffenheit im Osten Deutschlands gekommen.
Über 30 Jahre nach der Vereinigung werden jetzt in Ostdeutschland plötzlich große Industrieanlagen errichtet. In Brandenburg, in Sachsen und auch in Sachsen-Anhalt. Über Zukunftstechnologien und die weitere wirtschaftliche Profilierung im Osten sprach Berlin-Korrespondent Markus Decker mit dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider.
Interview
Carsten Schneider ist seit 2021 Staatsminister und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland.
Er gehört seit 1998 ohne Unterbrechung dem Deutschen Bundestag an und vertritt dort für die SPD den Wahlkreis Erfurt – Weimar – Weimarer Land. Schneider war von 2017 bis 2021 Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. Zwischen 2013 und 2017 übte er das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden der Fraktion aus. 2013 schloss der gelernte Bankkaufmann sein weiterbildendes Studium „Public Policy“ an der Universität Erfurt ab. Seit Beginn seines Mandates 1998 bis 2013 gehörte Schneider dem Haushaltsausschuss des Parlaments an. Dort war er von 2005 bis 2013 als haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Foto: DPA/ Nietfeld
>> Carsten Schneider wurde am 23. Januar 1976 in Erfurt geboren, ist verheiratet und hat zwei Töchter.
Foto: DPA/NIETFELD
Herr Schneider, vollzieht sich derzeit im Osten die ökonomische Wende zum Guten, von der alle so lange geträumt haben?
Ostdeutschland hat sich zur Boomregion entwickelt. Einerseits durch Wachstum aus bestehenden Unternehmen heraus. Nehmen Sie BMW, die in Leipzig eine neue Produktionslinie aufgemacht haben. Andererseits kommt mit Intel die größte ausländische Direktinvestition, die jemals in Deutschland gemacht wurde, nach Magdeburg. Dafür gibt es eine ganze Reihe guter Gründe.
Welche Gründe sind das?
Der erste Grund ist der Ausbau einer hervorragenden Infrastruktur in den vergangenen 30 Jahren. Zweitens gibt es viele gut ausgebildete Arbeitskräfte. Der dritte Grund ist, dass in Ostdeutschland die erneuerbaren Energien sehr gut ausgebaut wurden. Da haben zum Beispiel die Bayern einen Riesenfehler gemacht, weil sie den Ausbau bei sich gebremst haben. Der vierte entscheidende Faktor ist die Existenz großer freier Flächen, die entsprechende Ansiedlungen überhaupt erst möglich machen. Deshalb hat sich Intel für Magdeburg entschieden, nicht wegen der staatlichen Zuschüsse.
Es gibt also einen Platzvorteil Ost?
Tatsächlich. In Westdeutschland gibt es Platz für Industrieansiedlungen in dieser Größenordnung nicht mehr, auch weil es dichter besiedelt ist. Außerdem sind solche Ansiedlungen dort oft mit Skepsis und Widerstand verbunden. In Ostdeutschland sind die Menschen für neue Industrien offen und unterstützen das, weil sie wissen, dass es ohne Industrie kein Wachstum gibt. Diese Mentalität spüren auch die Investoren.
Dass es noch Fachkräfte gibt, wie Sie sagen, ist überraschend, weil doch viele vor allem junge Leute nach Westdeutschland abgewandert sind und Zuwanderung nicht so gewollt ist, wie es sein müsste.
Ich war gerade bei einer Konferenz in der Lausitz. Und da war der Tenor: „Die Zeiten, in denen aus der Lausitz weggezogen wurde, sind vorbei. Hier wird jetzt hergezogen.“ Egal woher sie kommen. Aber nur wenn man vor Ort bereit ist, die neuen Leute mit offenen Armen zu empfangen und sie als Bereicherung zu sehen, dann gelingt es. Ohne Zuwanderung werden wir unseren Wohlstand und unser Wachstum jedenfalls nicht erhalten können. Inzwischen kehren aber auch viele Menschen, die in den 1990er-Jahren weggegangen sind, wieder zurück, weil sie der Heimat verbunden geblieben sind. Außerdem sind die Kosten etwa für Wohnraum und Betreuung von Kindern oft auch noch günstiger.
Der Zuspruch für die AfD in Umfragen und bei Wahlen legt aber nahe, dass die Bereitschaft, Zuwanderung zu akzeptieren, nicht im erforderlichen Maße existiert, oder?
Zuwanderer gucken jedenfalls sehr genau, wie weltoffen eine Region ist, bevor sie dahinziehen. Wir sind ein freies Land und jeder kann bei Wahlen sein Kreuz machen, wo er will. Aber alles hat eine Konsequenz. Meine Überzeugung ist, mit einer Politik der Abschottung und einem Gesellschaftsbild von Vorgestern werden wir die Herausforderungen der Zukunft nicht bestehen.
Sachsen-Anhalt galt, was den Fortschritt in Ostdeutschland angeht, lange als eher graue Maus, verglichen mit Sachsen und Thüringen. Welche Rolle schreiben Sie dem Land heute zu?
Sachsen-Anhalt ist dabei, sich selbst neu zu erfinden. Deshalb passt auch die Entscheidung, das Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Halle anzusiedeln. Halle ist eine Stadt mit einer tausendjährigen Geschichte. Als Universitätsstadt und Forschungszentrum kann sie sich sehen lassen. Aber das Selbstbewusstsein hat gefehlt. Als es um den Wettbewerb zum Zukunftszentrum ging, hatte ich zu Beginn den Eindruck, dass die Hallenser selbst nicht an einen Erfolg geglaubt haben. Ich habe gesagt: „Wieso denn nicht? Geht mal aufrecht! Ihr habt hier hervorragende Bedingungen.“ Zum Beispiel mit einer sehr guten Verkehrsanbindung. Die Entscheidung hat für Selbstbewusstsein gesorgt. Der Spirit in der Stadt ist ein anderer. Jetzt heißt es: Wir packen das an.
Und jenseits von Halle?
Ich bin oft in Sachsen-Anhalt unterwegs, unter anderem im Chemie-Dreieck. Dort haben wir hervorragende und hoch innovative Unternehmen. Außerdem haben wir als Bund entschieden, das Forschungszentrum für Chemie im Rahmen des Strukturwandels in Leuna anzusiedeln. Ich war vor einem Monat auch in Stendal. Es war das erste Mal, und ich war echt überrascht und begeistert. Die Stadt hat eine hervorragende Infrastruktur mit ICE-Anbindung und einer aktiven Zivilgesellschaft. In Halberstadt errichtet Daimler Truck ein neues Logistik-Zentrum mit 600 neuen Jobs. Das sind alles Signale, dass etwas nach vorn geht. Die entbehrungsreiche Zeit ist zu Ende. Es kommt jetzt eine Zeit des Wachstums und des neuen Blicks auf die Region. Deshalb ist es auch Zeit für mehr Selbstbewusstsein und für Weltoffenheit.
Und der Osten differenziert sich aus?
Ja, es gibt Wettbewerb, unterschiedliche regionale Identitäten, aber auch Zusammenarbeit. Als die Entscheidung für Halle als Standort des Zukunftszentrums gefallen war, haben wir gleich Gespräche geführt mit dem Ziel, auch die Universität in Jena eng anzubinden. Dort ist die sozialwissenschaftliche Forschung exzellent. Das alles macht Mut.
Wie geht es weiter? Rechnen Sie mit weiteren Ansiedlungen? Und könnte der Staat mit zusätzlichen Subventionen in Milliardenhöhe locken? Oder ist irgendwann mal die Kasse leer?
In Mecklenburg-Vorpommern gibt es noch große Flächen, die für Ansiedlungen genutzt werden können, etwa bei Rostock oder Greifswald. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass der Investitionsboom anhält. Auch wenn die Dimensionen der Förderung für die Halbleiterindustrie schon einmalig sind, da es sich um eine Schlüsselindustrie handelt.
Aber die Wirtschaftsförderung im Allgemeinen geht weiter.
Ja. Sie ist auch nicht mehr spezifisch ostdeutsch. Seit 2020 gibt es ein gesamtdeutsches Fördersystem, das sich stärker darauf konzentriert, wo die Bedarfe sind. Und dafür gibt es Kriterien wie Steuerkraft oder Arbeitslosigkeit. Sie belegen, dass wir in Ostdeutschland immer noch einen erheblichen Nachholbedarf haben. Deshalb fließen 80 Prozent der Fördermittel dorthin.
Was können die Ostdeutschen selbst tun, damit der Fortschritt anhält?
Sie sollten sich bewusst machen, dass er tatsächlich da ist. Sie sollten ihn also annehmen und etwas daraus machen. Offenheit und Zukunftsvertrauen in den Mittelpunkt zu stellen, statt Trübsal – das wäre einer meiner großen Wünsche für unser Land.