Zukunftsland Sachsen-Anhalt
2026



Tele-Visite in der Pflegeeinrichtung Lutherhof in Eisleben: In der „Digitalen Residenz-Praxis“ wird Bewohner Wolfgang Kunst untersucht, betreut von Pflegefachkraft Sina Hinko (r.).
Fotos: Andreas Stedtler
Demografie
Tele-Visite in der Pflegeeinrichtung Lutherhof in Eisleben: In der „Digitalen Residenz-Praxis“ wird Bewohner Wolfgang Kunst untersucht, betreut von Pflegefachkraft Sina Hinko (r.).
Fotos: Andreas Stedtler
Die Arztpraxis im Heim
Von Lisa Garn
Sachsen-Anhalt altert und wird pflegebedürftiger. Ein Großprojekt für Pflege und Gesundheit will mit Technik Menschen entlasten. In Eisleben ist eine Idee erfolgreich.
Sina Hinko stellt sich an die Liege in ihrem Arbeitszimmer und zeigt auf medizinische Geräte. Messgeräte für Blutdruck, Puls und Sauerstoffsättigung liegen dort. Das Stethoskop hat am Ende des Kabels einen USB-Stecker. „Man steckt es in den Wagen und der Arzt kann den Patienten abhören – obwohl er nicht im Raum ist.“ Neben Hinko steht ein so genannter Riester-Wagen, ein Gerät, mit dem medizinische Diagnostik möglich wird und sich ein Haus- oder Facharzt für eine Televisite zuschalten kann. So funktioniert die „Digitale Residenz-Praxis“ in der Pflegeeinrichtung Lutherhof, die zur Seniorenresidenz im Park GmbH in Eisleben (Mansfeld-Südharz) gehört. Es ist ein Modell, das einzigartig in Sachsen-Anhalt ist und ein Baustein für die Pflege der Zukunft sein kann.
Die Bewohner werden in einem extra eingerichteten Behandlungsraum von einer akademisierten Pflegefachkraft untersucht. Unter anderem werden EKG geschrieben, Blutdruck oder Blutzucker gemessen. „Wir können einen Lungenfunktionstest machen und haben eine Wundkamera“, so Hinko, die das Projekt am Lutherhof betreut. Die Daten werden über Bluetooth digital hochgeladen. Sollen Ärzte zu Rate gezogen werden, können diese die Daten auswerten und zu Diagnose und Therapie entscheiden. „Ein großer Vorteil ist, dass den Patienten lange Wege zu den Praxen erspart werden und sie nicht lange im Wartezimmer sitzen. Und es muss keine Pflegekraft mitfahren.“
140 Millionen für Projekte
Es ist eine Lösung in einer Problemlage, die sich in Sachsen-Anhalt verdichtet. Hier ist der Anstieg an Pflegebedürftigen bundesweit am höchsten. Meist werden sie zu Hause betreut, doch auch die pflegenden Angehörigen werden immer älter. Gleichzeitig dünnt die gesundheitliche Versorgung gerade im ländlichen Raum aus. Antworten darauf will das Großprojekt „Innovationsregion für digitale Transformation der Pflege und Gesundheitsversorgung“ (TPG) finden. Rund 85 Projekte sollen bis 2033 im südlichen Sachsen-Anhalt gefördert werden. Bis zu 140 Millionen Euro stellt das Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt dafür bereit, es sind Mittel für den Strukturwandel im Mitteldeutschen Revier. Für die Medizinische Fakultät der Uni Halle ist es die bislang größte Fördermaßnahme und auch deutschlandweit ist es die größte für Innovationen in der Pflege.
Beteiligt sind die Regionen Anhalt-Bitterfeld, Burgenlandkreis, Mansfeld-Südharz, Saalekreis und die Stadt Halle. Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft sollen unter Leitung der Universitätsmedizin ein System aufbauen, das die regionale Gesundheitsversorgung verbessert und die Pflege weiterentwickelt. Ziel sind neue Technologien und Modelle, um Pflegebedürftige und Pflegende zu entlasten. „Die TPG will einen Bewusstseinswandel bewirken: dass Sachsen-Anhalt keine Problemregion ist, sondern Vorreiter für andere Bundesländer“, sagt Projektkoordinator Patrick Jahn von der Unimedizin Halle. „Was sich hier vollzieht, hat das Potenzial, Sachsen-Anhalt ein neues Profil als bundesweit einzigartiger Innovationsstandort zu geben.“
„Sachsen-Anhalt ist keine Problemregion, sondern Vorreiter.“
Patrick Jahn, Projektkoordinator TPG
Medikamente aus der Luft
Sein Team kann dabei auch auf Erfahrungen des Vorgängerprojekts „TDG“ zurückgreifen. Dabei wurden bereits regionale Innovationen entwickelt – etwa eine Drohne, die in Dessau Medikamente aus der Luft liefert. „Wir wollen nicht die nächstbeste Generation eines Serviceroboters bauen, sondern erreichen, dass die Menschen durch digitale Gestaltungsmöglichkeiten länger selbstbestimmt zu Hause leben“, so Jahn. So werde derzeit beispielsweise ein digitales Versorgungsnetzwerk aufgebaut, um Patienten nach einem Herzinfarkt besser zu begleiten. Sie erhalten ein Tablet, in das sie täglich Daten zur Lebensqualität und Vitalwerte eintragen. Verbunden ist es mit einem intelligenten Medikamentenspender, der informiert, wenn Medikamente nicht genommen wurden.
50 Tele-Visiten
Entwickelt werden soll auch ein smarter Rollator, der Sturzrisiken für ältere Patienten bemerkt und sie sicher navigiert. In einem anderen Projekt sollen alle Daten und zum Beispiel der Medikationsplan zum Bewohner an die Zimmerwand oder in eine VR-Brille projiziert werden. So soll eine schnellere Übersicht für Pflegekräfte direkt in der Pflegesituation möglich werden.
Im Eisleber Lutherhof ging die „Digitale Residenz-Praxis“ 2023 an den Start. Die Erfahrungen waren so gut, dass das Modell in reduziertem Umfang auf eigene Kosten weiterbetrieben wird. „Man ist sein eigener Herr, kann viel selbst entscheiden. Bei Verlaufskontrollen, zum Beispiel bei Diabetes, müssen wir auch keinen Arzt hinzuziehen“, sagt Hinko. Patienten kämen auch oft mit chronischen Wunden, bei Blutdruckentgleisungen, Infekten oder Schwindel. Über 84 Betten verfügt die Einrichtung, hinzu kommen 120 Plätze in der Tagespflege und 200 im ambulanten Dienst. Die Tele-Sprechstunde einer Hausärztin in der Region findet einmal in der Woche statt, bisher gab es insgesamt rund 50 Tele-Visiten.
„Es ist ein Zukunftsmodell für die Versorgung im ländlichen Raum“, meint Hinko. „In der Region ist die Krankheitslast hoch, viele Ärzte werden in kommenden Jahren ihre Praxen aufgeben. Mit Tele-Visiten können Pflegebedürftige weiter medizinisch versorgt werden.“ Mit dem Projekt halte Innovation Einzug in die Pflege, „die manchmal belächelt wird“. Die Herausforderung sei aber, die nötigen Fachkräfte zu finden.
Die Regionen haben sich innerhalb des Großprojekts TPG selbst die Schwerpunkte gegeben, sagt Jahn. „Die Landkreise haben Mitspracherecht darüber, welche Forschungsprojekte bei ihnen stattfinden sollen.“ Die TPG versteht sich als Netzwerk. Ziel sei, Universitäten und Hochschulen mit Unternehmen vor Ort zusammenzubringen, um Projekte anzuregen. „Wenn es eine Idee und Partner gibt, können wir Forschung und Entwicklung in jeder Region anstoßen.“ So sollen gemeinsam entwickelte Lösungen und Produkte für regionale Unternehmen entstehen. „Es gibt in vielen Regionen auch kleinere Firmen, die Forschungsabteilungen an den Unis brauchen, um in Projekte integriert zu werden“, sagt Jahn. Digitale Anwendungen böten Wachstumspotenzial, es sollen auch Arbeitsplätze entstehen.
Mehr Selbstständigkeit ist das Ziel
Mit dem Projekt „Innovatiosregion für digitale Transformation der Pflege und der Gesundheitsversorgung“ (TPG), will man u.a. mit künstlicher Intelligenz Lösungen entwickeln, die Menschen im Alter mehr Selbstständigkeit ermöglichen und gleichzeitig pflegenden Angehörigen und Pflegepersonal entlasten. Die Projekte werden mit Mitteln für den Strukturwandel unterstützt und von der Universitätsmedizin Halle koordiniert.
Bundesweit wird ein Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen beobachtet, während die Zahl des Pflegepersonals sinkt. In Sachsen-Anhalt lebten Ende 2023 rund 204.000 Pflegebedürftige, der Bedarf steigt stärker als erwartet.L. Garn

Neues Projekt geplant
Doch eine Hürde für neue Technologien sind Vorbehalte. Wolfgang Kunst wohnt seit drei Jahren im Lutherhof, er ist regelmäßig in der Digitalen Residenz-Praxis. „Messungen, Arztgespräch – das hat maximal acht Minuten gedauert. Es ist, als ob die Ärztin im selben Zimmer ist, und es spart Zeit“, so der 94-Jährige. „Aber manchen ist auch unheimlich, dass der Arzt woanders ist. Man muss sich daran gewöhnen.“ Die meisten aber seien froh, dass sie einen Termin beim Arzt bekämen, sagt Sina Hinko.
Das Heim in Eisleben will 2026 ein neues Projekt starten: Das Diagnosegerät soll als Koffer zum Einsatz kommen, mit dem ambulant betreute Bewohner des Lutherhofs versorgt werden. Derzeit läuft auch das Projekt „Lebenswerk AI“ – eine KI für die Biografie-Arbeit. Sie befragt Bewohner zu ihren Lebensstationen, aus den Antworten entsteht ein Buch zur Lebensgeschichte. „Die Pflege wandelt sich“, sagt Hinko. „Wir müssen uns jetzt mit neuen technischen Möglichkeiten beschäftigen, um Pflegebedürftige gut versorgen zu können.“

